WM | Interview mit DLV-Präsident Kessing aus Budapest
Jürgen Kessing, wie haben Sie die neun Tage WM hier in Budapest erlebt?
Die Stimmung im Stadion ist ausgezeichnet, das Leistungsniveau weltweit ist sehr hoch. Wir konnten am Anfang mit dem fünften Platz von Christopher Linke und dem deutschen Rekord zufrieden sein, dann wechselten sich Licht und Schatten ab.
Konsequenzen aus Debakel….
Welche sportlichen Leistungen haben Sie am meisten beeindruckt?
Sehr beeindruckend für mich war an Spannung und Dramatik kaum zu überbieten, der Diskuswurf genauso wie der Weitsprung, leider ohne deutsche Beteiligung, was den Ausgang des Wettkampfs anbetrifft. Die Leistung von Christopher Linke und Joshua Abuaku haben mich persönlich sehr beeindruckt.
Die Medaillen verteilen sich auf immer mehr Nationen. Da tauchen plötzlich Länder wie Burkina Faso, Peru oder die Britischen Jungfern-Inseln auf. Der Medaillenkuchen wird nicht größer, aber in immer mehr Stücke aufgeteilt und die Leichtathletik-Welt immer attraktiver?
Die Leichtathletik ist die zweite Sportart nach Fußball, die global unterwegs ist. Der Wissenstransfer über Internet ist kein Problem, wir haben in den letzten Jahren viele Trainer ausgebildet, aber leider geht eine Reihe von Coaches ins Ausland, weil sie dort weit mehr verdienen als hier.
War das DLV-Team mit 70 Athletinnen und Athleten nicht erneut zu groß? Hängt das mit POTAS, dem Leistungssport-Bewertungssystem zusammen?
Die Mannschaft wurde nach klaren Nominierungskriterien zusammengestellt und war sicherlich nicht zu groß. POTAS spielt natürlich eine Rolle. Wir haben bezüglich der Strukturen unsere Hausaufgaben gemacht, jetzt müssen wir sie mit Leben und Personal erfüllen. Deshalb haben wir in diesem Jahr auch einen neuen Sportdirektor eingestellt.
Hat man nach dem Sommermärchen von München mit 16 Medaillen im europäischen Vergleich die Leistungs-Situation überschätzt?
Nein. Europameisterschaften sind andere Titelkämpfe, das schätzen wir schon richtig ein. In München waren 49 Nationen am Start, bei der WM 202. Und der Weltmaßstab ist inzwischen ein deutlich höherer. Da muss man sich nur mal die Ergebnisse im Diskus bei Männern und Frauen anschauen.
Ist es bei uns schwierig, Leistungssport und Ausbildung bzw. Studium unter einen Hut zu bringen?
Wir haben gesellschaftlich in Deutschland Probleme mit Leistung und Leistungswillen sowie deren Anerkennung, das ist deutlich schlechter geworden als früher. Trotzdem versuchen wir den Athlet:innen über die duale Karriere zu helfen.
Die Kritik am dualen System hier wird immer deutlicher, der Weg junger Leistungssportler wird am Beispiel Leo Neugebauer immer offensichtlicher. Müsste der DLV den Weg über Sportstipendien in den USA endlich stärker akzeptieren und Kooperationslösungen anstreben, anstatt ihn abzulehnen?
Der Weg in die Colleges kann tatsächlich ein Weg sein. Allerdings muss man wissen, nicht für jeden ist dieser Weg gut. Das hat Leo erst kürzlich in einem Interview gesagt. Für ihn ist es top, weil er an einer erstklassigen Uni mit einer erstklassigen Trainingsgruppe ist.
Katharina Trost, siebenfache deutsche Meisterin über 800 und 1500 Meter aus München hat jetzt nach Abschluss ihres Referendariats fürs Lehramt den Antrag gestellt, statt 28 Stunden sich mit einem reduzierten Lehrauftrag auf die Olympischen Spiele vorzubereiten. Der Antrag wurde abgelehnt – Leistungsförderung „Marke Deutschland“?
Ja, das ist nicht im Sinne des Leistungssports und der Athletin. Ich bin mir aber sicher, dass man in Bayern da eine optimale Lösung finden wird. Der Sport muss einfach wieder mehr an Bedeutung gewinnen, denn er ist ein gesamtgesellschaftlich wichtiger Faktor.
Der Fußball hat nacheinander drei Großereignisse in Katar, bei der U21-EM, und in Australien bei den Frauen in den Sand gesetzt. Die Leichtathletik kämpfte hier in Budapest auch dagegen. Ist der Leistungssport in diesem Land in der Krise?
Wir sind gegenüber vielen anderen Ländern deutlich im Hintertreffen. Das geht anderen olympischen Sportarten ähnlich. Der Sport hat bei uns leider nicht mehr diesen Stellenwert wie früher. Es fehlen kraftvolle Fürsprecher an den entsprechenden politischen Stellen in Berlin. Auch müssen wir den Schulsport wieder stärken mit klaren Konzepten.
Können Budapest und Ungarn nach den äußerst positiven Erfahrungen dieser Woche auch Olympische Spiele?
Wenn ich sehe, was hier jetzt schon an olympiareifen Sportstätten entstanden ist, ist das eine Bewerbung, die vom Staat von langer Hand vorbereitet wird. Die Leichtathletik-WM wurde jedenfalls in Budapest sehr gut organisiert mit einem tollen Publikum.
Interview: Ewald Walker